A G D I S T I S – R E V I V A L

 

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Agdistis, von Zeus abstammend, aus dessen im Schlaf entflossenen Samen entstanden, von den Göttern entmannt und zur „Großen Mutter" Kybele geworden - aus seinem Glied erwuchs ein Mandelbaum.  Paris, Bibliothèque Nationale, Inventaire du Don Lequeu du Cabinet des Estampes, Inv. Ae 15 Lir.: Duboy 1986, 8. 291       

             

 

  

 

 

  „In dieser Gestalt leitet Lequeu seine latente Bisexualität (vgl. Kat. 465) vom griechischen Mythos ab. Agdistis war ein von Zeus abstammendes Zwitterwesen, das auch als Große Mutter verehrt wurde (vgl. Hunger 1981, S. 80). Die Attribute erhellen Doppelnatur und Rollenverteilung: Die Rose verweist auf das Geschlecht der Frau, der flammende Pfeil auf das des Mannes. Die einladende Armhaltung geht auf tanzende Bacchanten und Satyrn zurück. Der Zwitter ist zweifach doppeldeutig. Einmal ist er aus der Sicht des 18. Jahrhunderts ein Capriccio, eine Laune der Natur, die damit  ihre eigenen Normen überlistet. Auch hier setzen die Aufklärer den experimentellen Denkansatz durch. Diderots „Traum d'Alemberts" (ein Dreigespräch), dreht sich um die Entstehung und Verwandlung der Arte. Zwar unterscheidet Diderot zwischen der organischen Ganzheit und den Sprüngen der Natur, wie sie auch der Mensch bewirken kann, wenn er die genetischen Fäden verwirrt - aber, wo  verlaufen die Grenzen zwischen Norm und  Mißbildung? Ist nicht, wie Mlle de l'Espinasse  vermutet, der Mann das Monstrum der Frau und die Frau das Monstrum des Mannes? Lequeu wäre demnach die Überwindung dieser Monstrosität.

Daran knüpft ein anderer Aspekt an, der ins Auge springt, wenn wir die Zweigeschlechtlich­keit auf die triumphierende Erweckungsgeste beziehen. Agdistis verliert dann die gefährliche Leidenschaft, die ihr/ihm der Mythos nachsagt, und wird zu einem Symbol der Versöhnung, in dem Pfeil und Rose, Waffe und Fruchtbarkeit friedlich koexistieren.

Wir dürfen dabei auch an Runges „Morgen" (Kat. 537) denken: Wieder ein Kompositgeschöpf, in dem Venus mit Maria und Aurora verschmilzt. Venus ist überdies sowohl Urania wie Anadyomene, himmlische und irdi­sche Liebe in einer Gestalt. Runge bedient sich einer ähnlichen Erweckungshaltung wie Lequeu. Noch etwas verbindet die beiden Präzisionisten. Wenn Runge einen Freund um botanische Dar­stellungen bittet, weil er sich genau über den „Charakter der Geschlechtsteile" unterrichten will (HS I, 239), erinnert das an den Blick, den Lequeu auf das weibliche Genital richtet.“

 

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